Als
Kind hatte ich einen äußerst verantwortungsvollen Nebenjob: Ich war
Hüpfburgen-Lockvogel.
Meine
Eltern betrieben den „Großen bunten Hüpfburgen-Zirkus – ein
Riesenspaß für Groß und Klein“. Es war natürlich kein Zirkus im
herkömmlichen Sinn, er bestand nur aus einer Handvoll altersschwacher Hüpfburgen
und einem Wohnwagen, der als Kassenhäuschen und Verkaufsstelle für
Limo und Gummibärchen diente. Und mir nachts als Schlafstätte.
Wobei die Süßigkeiten stets sorgsam durch ein Vorhängeschloss
gesichert wurden.
Meine
Eltern tourten mit dem Zirkus durch die Vorstädte, jede Woche waren
wir in einem anderen Gewerbegebiet, eingezwängt zwischen
Autowaschanlagen und Matratzen-Outletstores. Mein Job war es, jeden
Nachmittag als Lockvogel zu arbeiten. Sobald sich Passanten -
idealerweise mit Kindern - dem Gelände näherten, musste ich hüpfen
und springen, dabei laut jauchzen und lachen und so tun, als wäre
dies der größte Spaß der Welt.
Ich
habe es gehasst. Den beißenden Geruch des billigen Gummis, der sich
in der Sonne noch verschlimmerte. Das Ächzen und Quietschen der
grell bunten Hüpfdinger, wenn ich lustlos auf ihnen herumsprang. Die
Schwaden, die von dem Dieselmotor über den Platz wehten. Dieser war
immer im Betrieb, denn er trieb die Ventilatoren an, die dafür
sorgten, dass die Hüpfburgen stets prall gefüllt waren.
Manchmal
kam tatsächlich eine Mutter mit ihrem Kind, ob nun angelockt durch
mich oder nicht. Sie zahlte etwas Geld, und das Kind durfte zehn
Minuten lang toben, unter den gestrengen Augen meiner Mutter im
Verkaufswagen, den Blick stets auf die gnadenlos tickende Stoppuhr
gerichtet. Nach exakt zehn Minuten betätigte sie eine Sirene, hob
die Uhr und blickte die Kundin auffordernd an. Meistens bettelten die
Kinder, sie wollten eine zweite Runde hüpfen, und meistens
schüttelte die Mutter den Kopf.
Dann
musste ich halt wieder ran.
Wenn
im Sommer andere Kinder am Zirkusgelände vorbei rannten, die Taschen
gepackt mit ihren Badesachen, johlend auf dem Weg zum Freibad oder Baggersee,
und ich stand auf dem blöden grünen Dinosaurier und hüpfte mir die
Seele aus dem Leib, dann war ich kurz davor, mein junges Leben zu
verfluchen.
Eines
Tages kam ein Junge in meinem Alter vorbei, er trug einen blauen
Rucksack, bedruckt mit Delfinen. Er blieb am Zaun stehen und schaute
mir zu. Ich hüpfte wie der Teufel, zeigte alle Tricks, die ich
konnte, sogar den gefährlichen Salto mit angedeuteter Schraube.
Der
Junge starrte mich an.
„Gehören
die Hüpfburgen deinen Eltern?“
Ich
hörte kurz auf mit meinen akrobatischen Kunststücken.
„Ja“
sagte ich, „die gehören meinen Eltern“.
Der
Junge blieb ganz kurz stumm.
„Du
musst das allerschönste Leben von der Welt haben“ sagte er.
Dann
rannte er weg, so schnell ihn seine Beine trugen.
Ich
blieb zurück, außer Atem und sprachlos.
Einige
Tage später rückte mein Geburtstag näher, mein zehnter. Mein Vater
fragte mich, was ich mir denn wünschen würde.
„Ich
habe einen Wunsch. Ich wünsche mir, dass an meinem Geburtstag alle
Kinder freien Eintritt haben und so lange hüpfen dürfen wie sie
wollen.“
Mein
Vater schaute mich komplett erstaunt an.
„Das
wünschst du dir?“
Meine
Mutter meldete sich prompt zu Wort.
„Was
soll das denn jetzt für ein Unsinn sein?“
„Lass
ihn doch, wenn das sein Wunsch ist, dann soll er es bekommen“.
An
diesem Abend blieb ich noch lange wach in meinem
Kassenhäuschen-Wohnwagen. Fast eine ganze Packung Filzstifte wurde
aufgebraucht, dann waren ein gutes Dutzend Plakate gemalt:
„Achtung,
nechsten Sonabend: Alle Kiender freien Eintritt!!! Kommt ale!“
Am
kommenden Nachmittag hielt ich Ausschau nach dem Jungen mit dem
blauen Delfinrucksack. Als ich ihn die Straße herunter stapfen sah,
sprang ich vom wackeligen Zwergenmärchenwald, auf dem ich gerade
herumturnen musste, schnappte mir ein paar Plakate und rannte zum
Zaun.
„Nächsten
Sonnabend haben alle Kinder freien Eintritt“ jappste ich außer
Atem und wedelte mit den Zetteln.
„Echt?“
sagte der Junge und schaute mich zweifelnd an.
„Ja,
den ganzen Tag, solange du willst. Kommst du?“
Der
Junge studierte mein Plakat, schaute mich immer wieder fragend an.
„Naja,
wenn das hier steht, wird es stimmen oder?“ sagte er.
„Nimm
die Plakate mit, sag all deinen Freunden Bescheid.“
Am
Freitag ging ich früh in mein Bett, das eigentlich nur aus einer
quietschenden Campingliege bestand. Schlafen konnte ich nicht. Morgen
würde der große Tag sein, mein Geburtstag. Irgendwann spät in der
Nacht fielen mir endlich die Augen zu.
Am
Samstag morgen weckte mich Kindergeschrei. Ich taumelte zur
Wohnwagentür und traute meinen Augen kaum. Sicherlich zwei Dutzend
Kinder standen am Zaun und krakeelten. Ganz hinten entdeckte ich
sofort den Jungen mit dem Rucksack. Mein Vater kam angelaufen und
grinste mich an.
„Na
da hast du ja was Schönes angerichtet“.
Er
ging zum Gatter am Zaun und hob die Hände:
„Ruhig,
Kinder, so viel Zeit muss sein. Wir wünschen euch heute viel Spaß,
seid vorsichtig und passt auf euch auf, und ganz wichtig: Diesen Tag
hab ihr einzig und allein meinem Sohn zu verdanken. Und nun: Kommt
rein!“
Die
Kinderhorde rannte johlend auf die Hüpfburgen zu und ich rannte mit.
Wir hüpften und sprangen den ganzen Tag bis zur völligen
Erschöpfung. Ich zeigte den anderen Kindern all meine Tricks und
half ihnen dabei, diese selber einzuüben. Irgendwann brachte meine
Mutter ein großes Tablett mit Limo und eine Schüssel Gummibärchen.
Als
jeder sich müde gehüpft hatte, verabschiedeten sich die Kinder. Der
Junge mit dem Rucksack stand vor mir und blickte zu Boden.
„Das
war heute ein sehr schöner Tag“ sagte er leise.
„Ja“,
sagte ich, „das finde ich auch.“
Meine
Karriere als Hüpfburgen-Lockvogel ging noch ein paar Jahre weiter,
aber schließlich sahen auch meine Eltern ein, dass ein gelangweilt
wippender Bursche von fünfzehn Jahren auf eine grell-pinken
„Happy-Hippo“-Hüpfburg nur einen begrenzten Werbeeffekt hat.
Meinen
zehnten Geburtstag werde ich hingegen nie vergessen.
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