Die Geschichte von Matilde und dem Flaneur
„Gehen Sie schon, gehen Sie!“
Der Metzger stand in der Ladentür, die Hände wütend in die Hüfte gestemmt, und starrte ihn an.
„Aber ich gehe doch“ erwiderte er sanft.
„Gehen? Gehen? Gehen bedeutet einen Schritt nach dem anderen machen. Sie gehen nicht, sie STEHEN!“
Der Metzger in seiner fleckigen Schürze schnaubte.
„Mitnichten“, sagte der Mann, „sehen Sie, gleich ist es wieder soweit.“
Und tatsächlich hob der Mann langsam seinen Fuß, bis sein Oberschenkel fast im rechten Winkel vom Körper abstand, beugte sich leicht vor und machte einen kleinen Schritt.
Einen sehr kleinen Schritt.
„Ok, das war EIN Schritt, und nun machen Sie brav noch einen Schritt, und noch einen, bis Sie nicht mehr direkt vor meiner Ladentür herumlungern.“
Der Mann schaute den Metzger verwundert an.
„Ich lungere nicht herum, das mißverstehen Sie wohl, und ich garantiere Ihnen gerne, dass weitere Schritte demnächst folgen werden.“
„Demnächst? Und warum nicht jetzt sofort?“
Der Mann blickte auf sein Handgelenk und dann auf das Trottoir hinab.
„Nun ja, weil nicht ich das Tempo vorgebe, sondern meine Mademoiselle.“
Um sein Handgelenk hatte er ein fein geflochtene Band aus farbigen Lederbändern geschlungen, das andere Ende war locker um den faltigen Hals einer Schildkröte gelegt. Ihr Panzer maß gewiss 30 Zentimeter oder mehr, und gerade schob sie wieder sehr langsam eines ihrer ebenso faltigen stummeligen Beine ein klein wenig nach vorn.
„Sehen Sie nicht, was sie heute für ein Tempo vorlegt?“ fragte der Mann und blickte den Metzger voller Stolz an.
Der Metzger stöhnte.
„Eine Schildkröte? Ihre Mademoiselle ist eine Schildkröte und Sie führen Sie spazieren?“
Der Mann dachte kurz nach.
„Eine interessante Frage, denn dann muss man zuvor definieren, wer wen spazieren führt.“
Der Metzger schlug sich mit der Hand vor die Stirn.
„Warum ich? Warum hier? Warum steht ausgerechnet vor meiner Ladentür ein Irrer, der sich von seiner Schildkröte zu einem Spaziergang einladen lässt? Warum??“
Der Mann seufzte leise.
„Wie gesagt, ich stehe nicht, ich gehe.... Aber das Thema hatten wir ja schon.“
Der Metzger holte tief Luft und zeigt auf die andere Hand des Mannes. Er trug einen flachen Korb aus Bast, leer und augenscheinlich der Größe der Schildkröte angepasst.
„Weshalb packen Sie Ihre Mademoiselle nicht in ihr... ihr Schildkrötentaxi und machen, dass Sie endlich davon kommen?“
„Mademoiselle heißt übrigens Matilde. Und was würden Sie sagen, wenn Sie einen kleinen Spaziergang machen wollen und jemand Sie packt und in einen Korb setzt, weil Sie zu langsam sind?“
Der Metzger schaute nun böse.
„Ich mache niemals einen Spaziergang. Wenn ich gehe dann habe ich ein Ziel, und dann sehe ich zu, dass ich es so schnell wie möglich erreiche. Mich muss niemand in einen Korb packen, damit es schneller geht.“
Matilde schob erneut ein Bein nach vorn und rutschte mit ihrem Bauch langsam ein ganz klein wenig über das Trottoir.
„Sehen Sie? Gleich ist es wieder soweit, und nun sagen Sie nicht, wir kämen nicht vortrefflich voran“ sagte der Mann.
„Aber Sie versperren der Kundschaft den Zugang zu meinem Laden, merken Sie das nicht?“
Der Metzger schnappte nach Luft. Matilde versuchte, den Kopf zu verrenken, um einen Blick auf den schnaubenden Mann zu werfen.
„Nun, da kann ich Sie beruhigen. Kommt ein werter Kunde vorbei, so kann ich behende einen Schritt zur Seite machen, und auch ein Fußlahmer könnte leicht einen Schritt über meine Matilde machen und problemlos Ihr Geschäft erreichen.“
„Oder er macht einen Schritt AUF ihre Kröte, das ginge wohl auch“ lachte der Metzger.
„Matilde, er meint das gewiss nicht böse. Er verkauft den ganzen Tag tote Tiere, das muss ich zu seiner Entschuldigung sagen.“
„Ja, und vielleicht haben wir demnächst auch Schildkrötensuppe im Angebot“ grunzte der Metzger.
Der Mann sah ihn betrübt an.
Aus dem benachbarten Geschäft kam eine Frau heraus, aufgeschreckt von dem Palaver.
„Obacht, Emma, in einer halben Stunde wird der werte Herr wohl dann vor deiner Tür herum lungern, und dann kannst du dich mit ihm herum schlagen“ lachte der Metzger.
„In einer halben Stunde? Nun ja, ich weiß nicht, ob wir das schaffen“ sagte der Mann zweifelnd.
Die Frau legte den Kopf schief und blickte auf das sonderliche Gespan.
„Darf ich Sie mal was fragen?“ sagte sie.
„Natürlich, nur zu, fragen Sie was Sie wollen. Ich stehe Ihnen mit Freuden zur Verfügung“ sagte der Mann.
„Wieviele Meter schaffen Sie denn so am Tag? Oder in einer Stunde?“
„Ach“, sagte der Mann, „das weiß ich gar nicht. Darauf kommt es nicht an. Mal ein paar Meter mehr, mal ein paar Meter weniger. Aber darum geht es uns ja auch nicht.“
„Und worum geht es dann?“ fragte die Frau.
„Matilde hat ihr Vergnügen und sie sieht ein bisschen von der Welt, und ich muss mir keinerlei Gedanken machen, ob ich nicht gerade etwas Besseres zu tun haben könnte. Matildes Tempo ist mein Tempo, und alles andere ist nicht wichtig.“
Matilde hatte inzwischen wieder zwei oder drei kleine Schritte vollzogen und schob ihren gepanzerten Körper ein wenig nach vorn.
„Ui, heute ist sie aber voller Elan“ sagte der Mann freudig und machte nun selber einen kleinen Schritt.
Der Metzger verschwand kopfschüttelnd und schimpfend in seinem Laden.
„Darf ich denn Matilde eine kleine Stärkung anbieten? Vielleicht ein Salatblatt oder eine frische Karotte?“
„Sehr gern, ich glaube, ein Salatblatt würde ihr gerade gut zupasskommen“ sagte der Mann.
Die Frau kehrte nach einem kurzen Augenblick mit einer Untertasse zurück, auf die sie einige Blätter frischen Salates drapiert hatte. Sie stellte den Teller vorsichtig auf das Trottoir, sorgsam bedacht, dem beeindruckenden Maul der Schildkröte nicht zu nahe zu kommen. Matilde erblickte das verlockende Angebot und legte sofort ein erstaunliches Tempo an den Tag.
„Nicht so schnell, Matilde, dein Picknick läuft dir nicht weg“ lachte der Mann.
Matilde machte sich genüsslich über den Teller her und die Frau blickte erneut auf das erstaunliche Paar.
„Sie müssen viel Zeit haben, wenn Sie mit ihrer Schildkröte spazieren gehen können...“ sagte sie.
„Zeit, was heißt Zeit? Für Matilde ist eine Stunde nur die Zeit, die sie benötigt, um sagen wir einmal zehn Meter zu flanieren. Für mich ist eine Stunde nur ein kleiner Teil eines langen Tages, an dem ich aber viele interessante Dinge erleben kann. Wäre ich an ihrem Geschäft vorbeigegangen, achtlos und in Eile, dann hätten wir uns nie kennengelernt, Und das wäre doch schade. Also danke ich Matilde jeden Tag aufs Neue, dass sie mir die Welt zeigt.“
Die Frau blickte ihn an, und sie verstand.
„So, und nun denke ich, dass Matilde ein kleines Nickerchen machen will, sie war heute schon sehr fleissig. Komm, Matilde, wir schlendern in den Park“.
Sorgsam nahm der Mann die Schildkröte auf und setzte sie in ihren Bastkorb.
„Vielen Dank für den Salat und das Gespräch, und noch einen schönen Tag für Sie“ sagte er und ging die Straße hinunter.
Die Frau blickte ihm noch lange nach und ging dann langsam in ihr Geschäft zurück.
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